In Deutschland wird über Sicherheitspolitik debattiert. Das ist schon mal gut, denn nur wer die Augen offen behält, fällt nicht in Grube. Doch erschöpft sich Sicherheit nicht im Militärischen. Das geht im Waffengeschrei derzeit unter, kommentiert Reiner Ruf.

Mit Namen soll man ja keine Späße treiben, aber dass der SPD-Bundestagsfraktionschef Rolf Mützenich mächtig eins auf die Mütze bekommen hat für seine Anregung, über einen Waffenstillstand in der Ukraine nachzudenken, ist ja nun wirklich evident. Dies übrigens – also das auf die Mütze bekommen – erfolgte im allerbreitesten medialen Mainstream. Denn: Russland muss besiegt und die territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt werde – inklusive der Krim. Dies liegt in Anbetracht des autoritären, mehr noch: faschistoiden Charakter des Putin’schen Regimes auf der Hand.

 

Allerdings stellt sich die Frage, wie dieser Sieg über eine Atommacht wie Russland zu bewerkstelligen ist. Da wird der Strom der Antworten dünn und dünner, um schließlich ganz zu versiegen. Das eine ist, im Stadium historischer Amnesie der SPD vorzuwerfen, sie erhalte ihre Direktiven direkt aus Moskau. Das andere ist, unter Bändigung des eigenen moralischen Überschusses zu einer vernünftigen Lageeinschätzung zu gelangen. Die betrifft insbesondere die aufflackernden Überlegungen zu deutschen oder europäischen Atomwaffen.

Zweifellos sehen sich die Europäer vor der Aufgabe, ihre konventionelle Schlagkraft zu erhöhen, um Putin davon abzuhalten, die in die Freiheit entwichenen Staaten des ehemaligen Ostblocks wieder einzukassieren. Auch die Ukraine verdient Unterstützung, wobei das heroische Geschrei aus den hiesigen Schreib- und Denkstuben schräg, wenn nicht zynisch klingt. Sterben müssen andere. Aber erscheint es vorstellbar, dass die USA – unter welcher Präsidentschaft auch immer – oder die chinesische Parteidiktatur es zuließen, dass sich Russland in einem Akt atomarer Erpressung der industriellen und wissenschaftlichen Kapazitäten Europas bemächtigte? Womöglich wäre es sinnvoll, Machtpolitik nicht allein von der militärischen Warte aus zu betrachten.

Bereits gegen Ende der 1950er Jahren hatten Kanzler Konrad Adenauer (CDU) und der CSU-Politiker Franz Josef Strauß, von 1956 bis 1962 Verteidigungsminister, die Ausstattung der Bundeswehr mit Atomwaffen eingefädelt – im Rahmen einer „atomaren Teilhabe“. Adenauer nannte seinerzeit taktische Atomwaffen, die auf dem Gefechtsfeld eingesetzt werden, eine „Weiterentwicklung der Artillerie“ und „beinahe normale Waffen“. Gegen dieses Ansinnen protestierten 1957 die „Göttinger Achtzehn“ in einer öffentlichen Erklärung. Es handelte sich um herausragende Naturwissenschaftler, darunter Otto Hahn, Werner Heisenberg und Friedrich von Weizsäcker. Eine breite politische Debatte entwickelte sich, 1958 aber stimmte der Bundestag dem Plan zu. Heute obliegt es dem Taktischen Luftwaffengeschwader 33 der Bundeswehr in Büchel (Rheinland-Pfalz), nach Freigabe durch die US-Streitkräfte Atombomben des Typs B 61 mit Tornado-Flugzeugen ins Ziel zu tragen. Die älteren Modelle dieser Bombe werden abgeworfen, die neueren verfügen über Lenksysteme. Etwa 20 Atombomben sollen in Büchel lagern.

Allerdings wird Putin Estland, Lettland oder Litauen kaum mit Atomwaffen angreifen, nach deren Einsatz nicht mehr viel übrig bliebe, was zu besetzen sich lohnte. Ein Atomschlag auf Hauptstädte wie Warschau oder Berlin wäre für Putin und seine Clique in seinen militärischen und politischen Konsequenzen kaum kalkulierbar. Kurzum: Die russischen Atomwaffen helfen Putin das zu behalten, was er schon hat. Sie stabilisieren sein Regime. Erobern kann er nichts mit ihnen, das geht nur konventionell. Dagegen muss Europa sich wappnen. Die Lehre aus der Ukraine ist: Putin darf erst gar nichts in die Finger kriegen. In Zeiten des Kalten Krieges nannte man dies Vorneverteidigung. Es war die gültige Nato-Strategie.

Deutschland hat vertraglich mehrfach auf Atomwaffen verzichtet, unter anderem im Atomwaffensperrvertrag, den der Bundestag 1974 ratifizierte. 190 Staaten haben ihn unterzeichnet. Im Zwei-plus-vier-Vertrag, der 1990 in Moskau unterzeichnet wurde und im Jahr darauf in Kraft trat, verzichtete das vereinte Deutschland auf atomare, chemische und biologische Waffen. Einen weitergehenden Atomwaffenverbotsvertrag haben inzwischen knapp 90 Staaten unterzeichnet, nicht aber die Nato-Staaten. Auch nicht Deutschland.

Innerhalb der Nato verfügen die USA, Großbritannien und Frankreich über Atomwaffen. Wenn jetzt Deutschland oder die Europäische Union als Ganzes ein nukleares Areal aufbauten: Wem in der Welt wollten sie dann noch erklären, dass es besser sei, auf diese furchtbaren Waffen zu verzichten?